St. Matthäus - ein Spaziergang

Pfarrer Peter Schulz, Gemeindepfarrer in St. Matthäus vom 01.04.1999 bis 31.03.2012

Sie macht es einem nicht leicht, sie zu finden. Zwischen Mietshäusern, drei und viergeschossig, verdeckt ein üppig wuchernder Garten im Sommerhalbjahr mit vielfarbigen Blüten und grünen Blättern jeder Schattierung die Matthäus-Kirche. Gnädig verhüllt die Vegetation die Patina, die sich in über sechzig Jahren auf Wände, Türe und Fenster gelegt hat. Das Relief über dem Eingang ist bleich geworden. Mit Mühe erkennt man einen Engel, darunter die Buchstaben Mt.
Der Engel, das alte Symbol für den Evangelisten Matthäus, dem Namenspatron des ersten evangelischen Kirchenbaus in Regensburg nach dem Kriege, und eines erneuten dreihundert Jahre nach der Einweihung der Dreieinigkeitskirche. 1954 erhielt der Sprengel 4 des Pfarramtes "Untere Stadt" eine eigene Kirche, ein Jahr später wurde die Gemeinde St. Matthäus selbständig.
 

Damals, bei ihrer Einweihung, schmückten Girlanden den Gebäudekomplex aus Pfarrwohnung, Gemeinderäumen, Kindergarten, Kirche und dem Turm, bei dem die Regensburger Patriziertürme Paten gestanden haben. Der Garten war nicht gepflanzt, das Grundstück nicht angelegt, von allen Seiten war der Blick frei auf diese Kirche mit ihrem sonderbaren Dach. In einem flachen Winkel breitet sich die Dachfläche über die Kirche auf der einen und dem Gemeindesaal auf der anderen Seite. Es ist ungewöhnlich, dass der First nicht längs des Bauwerkes vom Eingang zum Chor, sondern quer dazu verläuft und sich somit das Dach zum Altarraum hin neigt. Ein Zelt ist aufgespannt, durchstoßen nur vom Turm.
 

Rundgang 001
St. Matthäus am Tag der Weihe 31.10.1954

Ach, ja, der Turm! Es brauchte einige Jahre, bis er sein heutiges Aussehen bekam. Zum ersten musste er aufgestockt werden, weil er sonst von den umliegenden Häusern verdeckt sein würde, zum anderen bereitete das Flachdach Sorgen. Das Regenwasser konnte nicht abfließen und drang ins Mauerwerk ein.


Der heutige Turm von St. Matthäus

Die Kirche als steinernes Zelt. In der Tat ist die Form des Kirchendaches der Schlüssel zum Verständnis der Matthäus-Kirche. Das Zelt Gottes bei den Menschen. Mit dem Zitat aus dem 4. Buch Mose brachte der Architekt, Prof. Abel aus München, seine Bauidee auf einen Begriff. Aber es steckte mehr dahinter. Waren es vordergründig auch die Fragen der Akustik - im Kirchenraum soll alles ohne Lautsprecheranlagen verstehbar sein - so ging es im Grunde um nicht weniger, als eine völlig neue Art Kirchen zu bauen. Der zweite Weltkrieg, die untergegangene Diktatur hinterließen Millionen von Toten, hunderttausende entwurzelter Menschen und korrumpierte Ideale, missbrauchte Traditionen. Es war nicht der Luxus einer noch einmal davon gekommenen Aufbaugeneration, sich grundsätzliche neue Gedanken zu machen über die Art, wie, und wozu man Kirchen bauen solle, und welchen Auftrag und welche Stellung sie in der Gesellschaft einnehmen sollten. Es war die schiere Notwendigkeit angesichts der menschliches Fassungsvermögen überschreitenden Geschehnisse der zwölf Jahre Diktatur, in der ein Volk Mitteleuropas, Kind der Aufklärung, die eigene Kultur und andere gründlich zerstörte.
Was sollte noch gelten, was war nicht in der braunen Herrschaft benutzt, umgedeutet, verdorben worden?
Was stand noch an Tradition und Werten zur Verfügung? Und vor allem: woher gewinnt man neue tragende Ideale und Vorstellungen?
Derlei ist nicht binnen Jahresfrist von den Bäumen zu pflücken, derlei wächst langsam über Jahre und Jahrzehnte. Der Schutt des Krieges mag mehr oder weniger schnell beseitigt sein, die Wunden in den Seelen der Menschen und in der Kultur der Gesellschaft heilen nur langsam über Generationen hinweg.


St. Matthäus als steinernes Zelt

Der Neuanfang geschah 1949: die zu errichtenden Kirchen hatten sich ausschließlich am Gottesdienst auszurichten, die Orientierung an traditionellen christlichen Baustilen als tragendes Prinzip wurde aufgehoben, städtebauliche Aspekte hatten hinter dem gottesdienstlichen Prinzip zurückzutreten. Zudem mussten im Baukörper alle Belange der Ortsgemeinde in einem Zentrum berücksichtigt werden: Gemeindehaus, Kindergarten, Pfarramt, Pfarrwohnung.
Damit war mit den Traditionen gebrochen. So war zum Beispiel eine Ostung der Kirchen nicht mehr geboten, die bewirkte, dass das Morgenlicht vom Chor in das Kirchenschiff leuchtete, als Symbol für das Licht der Auferstehung, das der Gemeinde über den Altar als Platz des Abendmahles hinweg die Osterbotschaft verkündigte. Als man sich von diesen und anderen überkommenen Bauformen verabschiedete, gab man auch die bisherige Formensprache und Symbolik auf. Eine neue Sprache musste entwickelt werden, und sie musste einleuchtend sein, unmittelbar verständlich, um die alte auch tatsächlich ersetzen zu können.
Der Rückgriff auf die Idee des Zeltes, als Wohnung Gottes bei seinem wandernden Volk, das mit diesem mitzieht, wohin es auch geht, ist ein solcher Neuansatz, der einleuchtend sein musste bei einer Gemeinde, die überwiegend aus Heimatvertriebenen bestand, aus Menschen, die aus der gewohnten Sesshaftigkeit auf die Straßen getrieben wurden, ohne zu wissen, wo der Weg endete, den sie anzutreten gezwungen wurden, auf dem sie außer ein paar Habseligkeiten und sich selbst alles, was ihnen wert und teuer war, zurücklassen mussten.

Die liturgische Ausrichtung nach Süden hin

Nein, die Kirche hat keine Symmetrie, der Blick wird nicht auf ein Zentrum geleitet, sie ist unregelmäßig, mit Ecken und Rundungen, Schrägen und Schwüngen. Der Nierentisch lässt grüßen!
Man hatte 1954 wohl genug von gequaderter Ordnung, von Zentralperspektive, von der Ausrichtung auf einen Punkt hin. Verständlich.
Die Matthäus-Kirche ist schräg und macht es dem Besucher nicht einfach, sich in ihr zu orientieren, sich auszurichten. Die beiden Achsen verwirren, ohne dass man auf Anhieb sagen könnte, warum. Man muss in ihr Platz nehmen oder man geht gleich wieder. Ein einfaches Verweilen, Anschauen, zur Kenntnis nehmen, dem sperrt sie sich.

Wir nehmen Platz, egal wo. Wir lassen sie wirken, schauen uns um, nehmen auf, was wir sehen.

Der Innenraum von St. Matthäus

Das Licht strömt fast ungehindert durch die großen Fenster von Osten herein. Die Gemeinde sitzt im Osterlicht, nicht über den Altar scheint es herein, sondern direkt. Ursprünglich waren es Glasbausteine, aber der Zahn der Zeit erforderte Ersatz. So wurden sie Ende der achtziger Jahre ersetzt durch die jetzigen, mundgeblasenen Scheiben zwischen Isolierglas eingesetzt. Die innere Gliederung der Fenster wurde beibehalten, die Farben auch.
Rot: die Farbe der Martyrer, der Kirche, des Heiligen Geistes; Blau: die Farbe des Himmels, auch der Taufe; Gold: die Sonne des Ostermorgens und der himmlischen Herrlichkeit.
Alle diese Farben tauchen in der Kirche wieder auf, an den Wänden, der Orgel, im Altarbild. Andere werden nicht verwendet.

Der Boden ist für eine Kirche sonderbar. Mehrfarbige Linoleumfliesen spannen sich in weitem Bogen wie ein Fischgrätmuster quer durch den Raum, Reihe an Reihe. Jede schwarze Fliese ist der Platz für einen Stuhl. So wird erreicht, dass nach einem Gottesdienst, in dem vielleicht auch die Stühle umgestellt wurden, alles schnell wieder auf seinem Platz steht und nicht wie Kraut und Rüben durcheinander.


Die bunten Fenster von St. Matthäus

Einfach aber genial, wenn man schon Stühle statt Bänke hat! Damals durchaus ungewöhnlich in Kirchen. Ein Stuhl kostete 50 DM und die Gemeinde war aufgefordert, Stühle zu spenden. Viele haben einen oder zwei Stühle gekauft und teilweise in Raten abbezahlt. 1954 waren 50 DM eine hübsche Summe, die man nicht so einfach im Geldbeutel hatte. Diese Stühle sind noch heute im Einsatz. Die Gebrauchsspuren sind zu sehen, aber nennenswerte Reparaturen oder Ersatz waren nicht nötig. Qualität! Und an ihrer Bequemlichkeit kann sich manch eine Kirchenbank ein Beispiel nehmen. Hören Sie in der Dreieinigkeitskirche einmal die Johannespassion und fragen Sie danach Ihren Rücken, wie es ihm geht!

Im Gegensatz zu der Unruhe der Bodenmaserung sind die Wände schmucklos und schlicht. Das Ziegelwerk ist zu sehen, bedeckt mit einer dünnen Schlämmung. Die Wandflächen sind in zarten Pastelltönen gestrichen, die großen bläulich die schmalen hellbeige. Das bringt Ruhe und richtet die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den Altarraum.
Die großen Platten aus dunkelgrauem, fast schwarzem Wallenfelsmarmor bedecken die Stufen und den Boden des Chorraumes, verschalen die Kanzel, den Taufstein und den Altar. Alles scheint aus einem Guss, eher wuchtig als elegant, würdig und ernsthaft.
"Sankt Moro" witzelte es in der Gemeinde in doppeldeutiger Anspielung auf den schwarzen Chorraum und den Namen von Kirchenrat Morenz, dem ersten Pfarrer der Gemeinde St. Matthäus, der den Bau begleitet hat.
Aber der düstere Eindruck entsteht nicht durch den verwendeten Stein, er entsteht dadurch, dass der Chorraum drastisch weniger Licht hat als die Kirche. An der Ostwand, wo in der Kirche das Licht durch große Fenster hereinflutet ist im Chor lediglich ein quadratisches Oberlicht angebracht, das zudem durch das draußen überstehende Dach noch verschattet wird. Sehr bald versuchte man mit Neonröhren und Spotlampen, hinter dem großen Querbalken der Apsis versteckt, mehr Licht auf den Altar zu bringen. Aber vermag eine Lampe das Sonnenlicht zu ersetzen?
Das Problem ist die Sakristei. Sie ist an der Ostseite des Chores angebaut. Warum sie dort steht und nicht an der Westseite und damit genügend Licht in den Chor gelangen könnte, ist rätselhaft. Platz genug wäre vorhanden.

St. Matthäus Innenraum, Blick vom Altar aus

St. Matthäus Innenraum, Blick zum Altar hin

Des Rätsels Lösung zeigt ein Modell der ganzen Anlage aus der Planungszeit.

Da spannte sich ausgehend von der Sakristei an der Ostseite der Kirche ein Amphitheater mit fünf Stufenreihen in einem großen Bogen halbkreisförmig in den Hof. Für diese Open-Air-Kirche war die Sakristei das notwendige Verbindungselement zur "In-Door-Kirche". Leider hat man auf die Ausführung des Amphitheaters verzichtet, aber die Sakristei belassen, obwohl nun der Funktion im architektonischen Gefüge beraubt.
Schade.

Als schmalen Ersatz gab man der Sakristei eine Dachballustrade, um bei Außengottesdiensten im jetzt ebenerdigen Hof dem Posaunenchor und dem Kirchenchor eine Empore zu bieten. Aber diese Möglichkeit wurde nicht angenommen. Lediglich an Sylvester und an Weihnachten spielt der Posaunenchor dort oben nach dem Gottesdienst für die Gemeinde. Ansonsten ist übers Jahr dort genügend Platz für Leitern, Stangen, Dachziegel, verirrte Bälle, Gräser und Moos. Mittlerweile gesellt sich auch das eine oder andere Stück Beton dazu, das Regen und Frost über die Zeiten hinweg aus der Ballustrade herausgesprengt haben.

So bleibt der Chor finster und bräuchte doch mehr Licht. Vor allem das große Altarbild von Blasius Spreng wird schwer lesbar, wobei Staub und Kerzenruß aus fünfzig Jahren das ihre dazugetan haben.


Modell von St. Matthäus mit "Amphitheater"

Thema ist die Bergpredigt, Kern des Matthäusevangeliums, und einer Kirche des Evangelisten Matthäus höchst angemessen.
Auf zehn Holzpaneelen ist das Bild aufgetragen, die das Maßwerk der Dachsparren aufnehmen und so das Dach bis zum Boden ziehen sollen.
Dominante Figur ist der Christus: leicht nach links aus der Bildmitte gerückt schaut er herab auf das Volk im rechten Teil und in der Kirche. Zu seinen Füßen das Osterlamm, hinter seinem Haupt ein angedeutetes Kreuz, das sich in die kräftigen Strahlen des Osterlichtes auflöst.
Rechts oben eine Stadt, Kapernaum? Oder das himmlische Jerusalem, zu dem alle Wege auf diesem Bild führen?
Wer näher tritt, erkennt noch mehr: Trauben, Ähren, Fische und Brote, weit über die Begpredigt hinaus klingen viele Motive aus den Evangelien an: von den Speisungswundern bis zu den sieben "Ich-bin-Worten", eine echte Bilderbibel!
Blasius Spreng hat die Architektur der Kirche aufgenommen. Der Christus ist aus der Mitte heraus nach links verschoben und verbindet so die beiden Achsen der Kirche, Abendmahl und Predigt, Altar und Kanzel. Die zwölf Apostel im linken Teil des Bildes verstärken und verbreitern die Verbindung, Altar und Kanzel gehören zusammen, Abendmahl und Verkündigung brauchen und bedingen einander.
Diese Verbindung der beiden Achsen wird an ihren Endpunkten betont. Auf der Kanzelvorderseite hat Blasius Spreng den schreibenden Apostel Matthäus dargestellt, in der Mitte des Altars zeigt das Bild Brote, Fische, Tauben und Ähren. Jetzt fällt auch das Altarkreuz auf, das in der Lebendigkeit des Altarbildes fast untergeht. Es stammt ebenfalls aus der Werkstatt von Blasius Spreng, eine schwere, doch nicht wuchtige, eher elegante Emaillearbeit in Messing gefasst. Der Gekreuzigte ist erkennbar und seine Konturen verschwinden doch immer wieder im unregelmäßigen Muster der Oberfläche, so, wie das Kreuz selbst aus größerer Entfernung vor dem Altarbild. Bei der sonstigen Kargheit der Kirche ist hier etwas zu viel des Guten getan. Vielleicht wäre hier weniger mehr gewesen?

Das Altarbild von Blasius Spreng

So, wie bei dem anderen, dem großen Kreuz. Es hängt an der großen Wand gegenüber der Kanzel. Eigentlich ist es nur ein Korpus, aus Bronze gegossen von der Münchner Künstlerin Luise Wilkens. Das Kreuz bilden Steine der Wand, die nicht geschlämmt und gestrichen wurden. Schlicht, eindrücklich, passend zur Atmosphäre der Kirche.

1959, vier Jahre nach der Einweihung fand es hier seinen Platz, einen sonderbaren Platz. Es passt hinein, gehört aber nicht ganz dazu. Als hätte man es hingehängt, wo noch Raum war.

Es hat keine Funktion, keinen sichtbaren Zusammenhang mit den anderen liturgischen Orten, nicht mit dem nahen Taufstein und seinem Deckel, der mit Sterngravuren das Himmelsgewölbe darstellt - ein Schöpfungszitat.

Nicht mit dem Altar, von dem es zu sehr abgerückt ist, nicht mit der Kanzel, obwohl es ihr gegenüberhängt. Denn, warum sollte der Prediger allein dem Kreuz gegenüberstehen und die Gemeinde nicht?

Vielleicht ist dieser für ein Kreuz so sonderbare Ort ein Grund, warum die Kirche St. Matthäus so sperrig, so "unrund" erscheint. Es passt hinein und gehört nicht dazu und ist doch ein Teil des Ganzen.
Sie macht es einem nicht leicht, diese Kirche, nicht draußen, sie zu finden, nicht innen, sich in ihr einzufinden. Und doch ist sie ein gelungener Versuch, die Gegenwart Gottes in der Welt zu beschreiben.

Ob sie zu den großen Würfen der Nachkriegsarchitektur zählt, müssen Berufenere und Fachkundigere entscheiden. Aber wenn es stimmt, dass Menschen über die Zeiten hinweg ihre Vorstellungen von der Gegenwart Gottes in ihrer Welt im Kirchenbau dargestellt haben, dann ist die St. Matthäus-Kirche ein beredtes Zeugnis für die Sicht dieser Dinge in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.


Die Christus-Figur von Ulrike Wilckens und der Taufstein von St. Matthäus